Eine kriegerische Garnison

Ralph von Rawitz
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 13.03.1904
in: „Preßburger Zeitung” vom 28.04.1904


In Indien hat das Kastenwesen so tiefe Eindrücke auf das soziale Leben ausgeübt, daß ein Schuhmacher keine Schneiderstochter und ein Tischler keine Schlosserstochter heiratet. Ganz so schlimm lagen die Verhältnisse in Helmstädt, einer kleinen märkischen Garnison, unfern Berlin, nicht, aber sie erinnerten doch daran, wie Professor Ulbrich, der Direktor des Realgymnasiums, eines Tages zutreffend bemerkte.

Woran das lag? Natürlich am bunten Rock!

Helmstädt hatte früher ein Hußarenregiment beherbergt; eines Tages hatte man sich aber oben, wo die Geschicke des Militärs entschieden werden, aus triftigen Gründen veranlaßt gesehen, die Hußaren in eine andere Garnison zu legen und dafür war in das Städtchen ein Bataillon Infanterie und eine Abteilung Feldartillerie eingerückt, ein Tausch, mit dem die Helmstädter hätten zufrieden sein können, wenn nicht Eris, wie in alten Zeiten, ihre Schläger geschüttelt und den Apfel der Zwietracht mitten auf den Marktplatz gerollt hätte.

Schon am ersten Tag, dem Einzugstage der neuen Besatzung, hatten die einen sich voll Bewunderung über die prächtige Janitscharenmusik der Infanterie geäußert, mit denen ihrer Ansicht nach die Blechpuster aller berittenen Waffen nicht konkurriren könnten. Dem gegenüber waren andere mit der Meinung hervorgetreten, die Infanteriemusik sei überhaupt keine rechte Militärmusik. das sei ein Orchester, gut, Opern- und Operettenmelodien zu dudeln, aber keine Soldaten-Musikbande, die heroische Weisen zu Kampf und Sieg herausschmettert und alle Gefühle im Busen des Mannes erregen soll. Zu diesen hatten sich dann die Damen gesellt, welche den rothen Kragen schmuck und fein fanden, zu jenen dagegen die Verehrer des schwarzen Kragens, bei dem sie weniger die Farbe, als die Qualität — Sammt — rühmten. Allmählich fanden die einen immer mehr Vorzüge an der Infanterie, die anderen an der Artillerie und da die beiden Waffen sich auch selbst nicht sehr grün waren, so war der Zwiespalt fertig.

Dieser Dualismus der guten militärischen Stadt erreichte aber eine noch höhere Potenz, als zwei Generalitäten auf der Bildfläche erschienen, die, verabschiedet, a tempo auf den Gedanken gekommen waren, die hübsche kleine Landstadt zu dauerndem Wohnsitz zu wählen. Exzellenz Wiese war zuletzt Kommandeur einer Infanterie-Brigade gewesen und mit dem Exzellenztitel zur Disposition gestellt worden, General Blenheim hatte an der Spitze einer Feldartillerie-Brigade gestanden. Beide Herren waren tüchtige Militärs gewesen und hingen noch im schwarzen Rock mit Eifer und Liebe an der alten Waffe. Wiese hatte seiner Zeit als Regimentskommandeur ein Renkontre mt einem Herrn von der Artillerie gehabt, Blenheim aber schob die Schuld daran, daß er in der militärischen Stufenleiter nicht weiter aufgestiegen war, auf seinen Divisionskommandeur, der zufällig aus der Infanterie gestammt hatte. So waren denn auch bei ihnen die Vorbedingungen zu einer Abneigung gegeben, die ein Spezialfall noch vergrößerte. General v. Blenheim, der sich noch sehr rüstig fühlte, hielt einen Gaul, auf dessen Rücken er täglich, bei gutem wie schlechtem Wetter, weite Ritte in die hübsche Umgebung von Helmstädt machte. Er hatte sich die Generalstabskarten: Sektion Helmstädt und Nachbarsektionen, gekauft und focht auf ihnen imaginäre Schlachten, bei denen natürlich sein ehemaliger Divisionskommandeur stets den Gegner bildete. Wenn er dann nach einem solchen Ritt in sein Stammlokal „Das goldene Roß” eingekehrt, im Kreise von Offizieren und Zivilisten saß, pflegte er scharfsinnige Erörterungen darüber anzustellen, daß keine Infanterie der Welt das Defilé von Lützow passiren könne, wenn oben, bei Kranichendorf, eine Feld-Artillerie-Abteilung abgeprotzt habe.

Exzellenz Wiese war dagegen ganz Techniker; lange Jahre zu allen möglichen technischen Instituten kommandirt gewesen und Verfasser der berühmten Broschüre „Darf die Schlagbolzen-Mutter brünirt werden?”, kannte er kein größeres Vergnügen, als ein neues Gewehr zu ersinnen, daß bei einer Anfangsgeschwindigkeit von 1500 Metern Panzerwände durchschlug und keinen Rückstoß äußerte. Daneben aber liebte er leidenschaftlich bissige Foxterriers, von denen er in seinem Garten eine ganze Familie angesiedelt hatte. Dieses Hundegeschlecht sollte nun die beiden alten Militärs noch mehr entzweien; denn als eines Tages Herr v. Blenheim im Bewußtsein eines kolossalen Sieges von dem Lützower Engpaßīzurückkehrte und etwas lose im Sattel der alten „Thekla” saß, da stürzte plötzlich die Familie Foxterry aus dem Wiese'schen Garten unter lautem Gekläff hervor und versuchte die braune Stute in die Beine zu beißen. Thekla erschreckte und bäumte, und ihr Reiter wäre um Haaresbreite in den Straßenschmutz geschleudert worden, hätte er sich nicht noch im letzten Augenblick an der Mähne festgehalten. Waren die beiden alten Herren auch viel zu vornehm, als daß dieses Ereigniß sie zu mehr, als einem inneren Vorwurf hätte veranlassen können, so übte es doch einen erkältenden Einfluß aus, und Artillerie und Infanterie war mehr geschieden, denn je.

An das Militär schloß sich die Zivilbevölkerung an; die Bewohner des Stadtviertels, wo die Infanteriekaserne lag, war infanteristisch gesonnen, die Nachbarn der Artillerie dagegen artilleristisch. Sattler und Schmiede, für die hier und da eine Bestellung der fahrenden Abteilung abfiel, hielten nichts von den „Fußlatschern”, und die Schuster, die neben den Bataillonswerkstätten für die Infanterie arbeiteten, dachten sehr gering von der „Bombe”, die wenig Stiefel verbrauchte. Auch die oberen Zehntausend, d.h. für Helmstädt die oberen drei Dutzend, nahmen Partei. Der Gymnasialdirektor Professor Hersemann war für den idealen Schwung des General v. Blenheim begeistert, zumal da er selbst ein dreibändiges Werk über die Schlacht von Kinaxa schrieb und sich den strategisch-taktischen Rat des Generals des öfteren erbat; mit ihm schwur seine Lehrerschaft zur Kanone,sowie das Amtsgericht; der Amtsrichter war nämlich Hauptmann der Landwehr-Feld-Artillerie. Das Real-Gymnasium (Direktor Professor Ulbrich) und der Stadtpfarrer hielten dagegen zu Exzellenz Wiese, der ihnen in seinen praktisch-technischen Arbeiten und mit seiner ausgesprochenen Redegabe mehr zusagte. Die Artilleristen saßen im „Goldenen Roß”, die Infanteristen in der „Grünen Traube”.

Professor Ulbrich hatte Helmstädt mit Indien verglichen; wären ihm aber alle einschlägigen Verhältnisse bekannt gewesen, so hätte er sich den weiten Gedankenflug bis nach Indien ersparen und in Europa bleiben können. Helmstädt war auch ein Verona, denn zwischen den Montecchi mit der Helmspitze und den Capuletti mit der Helmkugel fehlte auch Romeo und Julia nicht. Exzellenz Wiese hatte einen Sohn, der als Oberlieutenant bei der Helmstädter Infanterie-Brigade stand, und General v. Blenheim eine achtzehnjährige Tochter; die beiden jungen Leute hatten sich in Gesellschaft kennen gelernt und eine tiefe Neigung zu einander gefaßt, die von den beiderseitigen Frau Mamas eifrig protegirt wurde. Die beiden alten Damen waren die Einzigen, welche der Zwiespalt Helmstädts nicht in Mitleidenschaft gezogen hatte; sie wirkten freilich in aller Stille, aber dennoch eifrig und unablässig an der Wiederherstellung friedlicher und einheitlicher Verhältnisse, ohne die Schuld zu verkennen, welche die beiden Ehegatten an dem Zwist trugen.

Diesen Zweck verfolgte auch ein Gespräch, das Ihre Exzellenz und die Frau Generalin an einem klaren Novembermittag auf der städtischen Promenade pflegten, während hinter ihnen, mit zwanzig Schritt Abstand, Erika v. Blenheim und Wilfried Wiese in traulichem Geplauder dahinschritten.

„Wenn Du doch irgend etwas thun könntest, Wilfried, um Papa zu besänftigen,” sagte das junge Mädchen — sie duzten sich heimlich schon lange Zeit — „ich verstehe ja von militärischen Dingen so wenig, denke Du doch darüber nach.”

„Aber sehr gerne, — Erika — wenn ich nur wüßte, was! Ob ich mich einmal bei der Lützower Furt postire und seinen Ansichten beipflichte? Er kommt ja fast alltäglich dorthin.”

„Ach, Wilfried, ich fürchte, das fällt ihm auf! Und dann geht es so, wie im Dichterverse: Man merkt die Absicht und man wird verstimmt.”

„Ja, aber was denn? Du mußt doch auch ein wenig helfen, liebe Erika! Könntest Du Dich nicht meinem Papa irgendwie nähern? Ihm irgend etwas Liebes erweisen?”

Während so die beiden jungen Leute nachsannen, waren die alten Damen zu einem besseren Resultat gelangt.

„Liebste Blenheim, ich sage Ihnen, dieses ist eine Gelegenheit, die man nicht verstreichen lassen darf. Nützen wir Sie aus! Ich stecke mich hinter den Bataillonskommandeur, und Sie nehmen den Abtheilungskommandeur von der Artillerie bei Seite. Ueberdies bearbeiten wir gemeinsam den Landrath, der ja stets als Unparteiischer zwischen beiden Parteien geschwebt hat und sich gern bereitfinden wird, dem unerqicklichen Zustand ein Ende zu machen. Wir sind jetzt Mitte November, — wir haben also drei Wochen Zeit.” — —

Einige Tage später in der Abendstunde, als in der „Traube” ein großer Kreis von Offizieren und städtischen Honoratioren versammelt war, sagte der Major Zimmermann, der Kommandeur des in Helmstädt garnisonirenden Bataillons, plötzlich folgendes:

„Ja — was ich übrigens allerseits mittheilen muß, — wir stehen vor einem Gedenktage! Am 3. Dezember sind 30 Jahre seit der schlacht von Orleans verflossen, in der unser Bataillon ruhmvoll gefochten hat. Wir werden diesen tag in schlichter, aber würdiger Weise feiern. Wie ich höre, plant die Artillerie, dir ja dazumal auch betheiligt war, dasselbe.”

Er machte gegen den Landrath Baton v. Aue eine Verbeugung, die als Einladung zur Feier gelten konnte: vielleicht war sie aber auch anders gemeint, denn über die friedlichen Züge des alten Edelmannes flog es wie ein Lächeln, und er nahm nun das Wort:

„Ja! Dreißig Jahre! Ich erinnere mich noch deutlich des Tages! Eiskalt! Abends furchtbarer Schneesturm, als wir biwakirten! Lieber Gott, wie die Jahre vergehen! — Natürlich muß der Tag gefeiert werden, es ist ein Ehrentag unseres lieben dritten Korps. Na selbstverständlich muß an solchem Tage alles zusammenfeiern!”

Die Anwesenden horchten gespannt auf: „Gemeinsam?”

„Gemeinsam!” wiederholte Baron Aue. „Und da die Feier nicht gut in einem Kasino oder in einem unserer großen Hotels begangen werden kann, weil sie alle einen parteiischen Charakter tragen, so stelle ich den großen Saal des Landrathsamtes zur Verfügung. Und, wenn es Ihnen recht ist, mein lieber Herr Major, so ziehen wir das ganze Zivil heran, dessen Einladung ich gern übernehme.” —

Eine halbe Stunde nach diesem Ereigniß wiederholte sich der Vorgang im „Goldenen Roß”. Hier proponirte der Artillerie-Kommandant eine Orleansfeier, und der Landrath, der sich dort eingefunden hatte, stellte wiederum seine Räume zur Verfügung. Noch am selben Abend gingen Listen herum, die sich schnell mit Unterschriften bedeckten: Alle unterschrieben, nur zwei nicht, denen man sie klüglich vorenthielt: Exzellenz Wiese und General Blenheim.

Erst am nächsten Nachmittag, als ganz Helmstädt zugesagt hatte, kam die Einladung den beiden alten Herren zu Gesicht. Was wollten sie nun machen? Sich ausschließen? Das war bei ihrer Stellung völlig unmöglich. So sagten sie grimmig: „Ja und Amen” und gelobten sich ein Jeder im Stillen, den Attentäter zu erwischen, der diesen Plan ausgeheckt hatte, und am Festabend recht reserviert für sich zu bleiben. — —

Der Festabend kam. Das ganze Landrathsamt war herrlich mit Tannengewinden geschmückt. Ein Blumenkranz schlang sich um das Bild des unvergeßlichen alten Kaisers im großen Saal, und auch seine Paladine waren nicht vergessen worden. Die gesammte Bürgerschaft und beide Offizierskorps waren vertreten; die Musik stellte sowohl die Infanterie wie die Artillerie, jedes Korps spielte eine Weise.

Der Festakt gipfelte in einer Darstellung der Schlacht vom 3. Dezember an der Hand großer Wandkarten durch den Oberlieutenant Wiese von der Infanterie. In einem schlichten, klaren Vortrag entwickelte er alle Phasen des schweren Kampfes, zeigte an alle Heldenthaten des ernsten Tages. Und als er dann zum Schluß kam, da wies er darauf hin, daß von dieser jetzigen Generation zwar keiner die blutige Dezemberschlacht mitgekämpft habe, wohl aber drei alte Krieger, die im Bürgerkleide unter ihnen weilten: General v. Blenheim, Landrath Baron Aue und sein eigener Vater, Exzellenz Wiese. Ihrer Mitwirkung sei es zu danken, daß wir uns heute eines ehrenvollen langen Friedens und des geeinten Vaterlandes zu erfreuen hätten.

Und nun traten die jungen Damen vor, Erika von Blenheim, die Tochter des Bürgermeisters und die Tochter des Gymnasialdirektors, und überreichten jedem der alten Soldaten einen schlichten Lorbeerkranz.

Die alten Militärs reichten sich die Hände und blickten sich stumm an; aber in ihren Blicken schimmerte es feucht. —

Seit diesem Abend ist in Helmstädt der Friede eingekehrt!

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